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Freilichttheater von europäischer Bedeutung

Zwei Männern schwebt anfangs des 20. Jahrhunderts vor, Hertenstein zu einer Kulturstätte von internationalem Rang zu machen. Das erste klassische Freilichttheater der Schweiz soll entstehen. Gedeon Berger, der Besitzer der Liegenschaft des Schlosshotels und des Kurhauses Hertenstein, und Rudolf Lorenz, Theaterdirektor, scheinen das ideale Duo für dieses Vorhaben zu sein. Auf dem Tanzenberg soll eine Bühne geboten werden für Grillparzers „Medea“, Goethes „Iphigenie von Tauris“, Lessings „Minna von Barnhelm“, Shakespeares „Was ihr wollt“ und für viele andere Stücke. Es sollen sogar zeitgenössische Gedichte dargeboten werden.

Für den Bau beauftragen sie Robert Elmiger, Zeichenlehrer, Maler, Architekt, Bühnenbildner und Professor an der Kunstgewerbeschule Luzern. Nicht zuletzt wegen seiner Gestaltung wird Hertenstein zu einer der bedeutendsten Freilichtbühnen Europas. Die Zuschauertribühne ist einem Amphitheater nachempfunden. Zur Theaterkulisse von Stücken aus der Antike gehört ein zweistöckiger Turm und ein Tempelnachbau.
Berühmte Schauspieler von deutschen und österreichischen Bühnen werden engagiert. Sie logieren in den umliegenden Bauernhöfen und Privathäuser. Einer von ihnen bewohnte das weisse Häuschen zwischen dem Brünnihof und Eggisbühl und nannte es „Villa Unschuld“. Gespielt wird täglich mittags und nachmittags von Mai bis September.

Eigentlich war beabsichtigt, nur drei Vorstellungen zu geben, aber bei schlechtem Wetter muss möglichst schnell eine weitere Vorstellung angeboten werden können, damit den Ausflüglern Alternativen geboten werden kann. Die Aufführungen ziehen ein internationales und anspruchsvolles Publikum an. 17’000 Gäste besuchen 89 Theatervorstellungen. „Noch nie hat Grillparzer so zu uns gesprochen, wie am Sonntag in Hertenstein durch seine ‚Medea‘“, schreibt das Aargauer Tagblatt am 1. Juni 1909. Selbst die „New York Times“ berichtet vom Hertensteiner Freilichttheater.

Verregnete Aufführungen belasten allerdings das Portemonnaie der Herren Berger und Lorenz stark. Und mehr noch als jedes Wetter setzt ihnen der erste Weltkrieg und ein Brand des Freilichttheaters zu. 1915 muss die Spielzeit für sieben Jahre eingestellt werden. Aber auch die Wiederaufnahme der Aufführungen 1922 gelingt nicht mehr. Der am Eingangstor der Theateranlage geschriebene Spruch gilt ab sofort wieder: „Träume, mein Herz, den Traum der Schönheit, den fast verschollenen im wüsten Tagwerk, hier träum ihn.“

Inventarnummern 11380, 11081, 11082, K019; 111001; Nr 294 Regionalmuseum / Karin Bernath

Bild: Lorenz Rudolf. Das Freilichttheater Hertenstein. Eigenverlag 1910. S. 71